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Friedrich Nietzsche: Gott ist tot!

C 16     Friedrich Nietzsche: Gott ist tot!

Friedrich Nietzsche ist kein sachlicher Philosoph, sondern ein wirkmächtiger poetischer und tragischer Denker von höchster sprachlicher und gedanklicher Kompetenz, der zugunsten von aphoristisch vorgetragenen Aussagen auf ein ausgefeiltes philosophisches System verzichtet.

Neben den schweren lebenslangen   Belastungen   durch seine chronischen Erkrankungen und durch seine Umnachtung in seinen besten Mannesjahren sehe ich eine weitere, wenn auch eine weniger offensichtliche Tragik im Leben von Nietzsche, und zwar in seiner Beziehung zu Gott.

Nietzsches Verhältnis zu Gott war insoweit ambivalent als es einerseits nach Außen durch gewaltige gegengöttliche Eruptionen charakterisiert wird und andererseits in seinem Gemüt durch Zweifel und Gottessehnsucht gekennzeichnet ist.

Zu Ersterem  werde ich den berühmten Passus über den toten Gott aus den „Fröhlichen Wissenschaften“ zitieren, werde sein bewegendes und hochliterarisches pseudoreligiöses Werk „Also sprach Zarathustra“ erwähnen, in dem er statt Gott den Übermenschen propagiert und die Ewige Wiederkehr und schließlich werde ich noch seine umfassende scharfe Kritik am Christentum im „Antichrist“ anführen.

Im Rahmen der genannten Ambivalenz ist zu Letzterem folgendes zu sagen:

Die Erkenntnis, dass sich Nietzsche trotz aller Gottesablehnung nach Gott gesehnt hat, entnehme ich einem Gedicht am Anfang seiner Karriere und einem weiteren Gedicht gegen Ende seiner philosophischen Laufbahn.

Nach seinem Abitur verfasste Nietzsche im Jahre 1864 ein Gottesgedicht von höchstem literarischem Rang und tiefer persönlicher Berührtheit und Sehnsucht:

„Dem unbekannten Gott“

„Noch einmal eh` ich weiterziehe
und meine Blicke vorwärts sende
heb’ ich vereinsamt meine Hände
zu Dir empor, zu dem ich fliehe,
dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht
dass alle Zeit
mich deine Stimme wieder riefe.

Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte:
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben
Sein bin ich- und ich fühl die Schlingen,
die mich im Kampf darniederziehn
und mag ich fliehn
mich doch zu seinem Dienste zwingen.

 Ich will dich kennen, Unbekannter,
du tief in meine Seele Greifender,
mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender
du Unfassbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.

 

In seiner letzten Schaffensperiode verfasst Nietzsche die „Dionysos-Dithyramben“, an deren Ende er den unbekannten Gott nochmals herbeifleht und damit seine lebenslange Gottesbezogenheit offenbart:

 Nein!
Komm zurück!
Mit allen deinen Martern!
All meine Träume laufen
Zu dir den Lauf
Und meine letzte Herzensflamme
dir glüht sie auf.
O komm zurück,
mein unbekannter Gott!
Mein Schmerz
Mein letztes Glück!!

 

Betrachten wir nun die wesentlich deutlicheren und im Vordergrund stehenden negativen Aussagen Nietzsches über Gott. Wie schon oben erwähnt findet sich des Philosophen intensivste Gottesablehnung in seinem Essay „Die fröhliche Wissenschaft“, in dem Nietzsche

einen Narren erklären lässt, dass Gott tot ist, weil er von den Menschen getötet wurde:

„Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: Ich suche Gott! Ich suche Gott!

Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? Sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? Sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander.

Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!

Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Sonne von der Erde losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leer Raum an? Ist es nicht kälter geworden?  Kommt nicht immerfort die Nacht und immer mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts vom Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen.

Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!

Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?

 

Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt das Blut von uns ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selbst zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um diese Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!

 

Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass die in Stücke sprang und erlosch. Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen“. (Die fröhliche Wissenschaft § 47 in Nietzsche Gesammelte Werke, Gondrom Verlag 2005).

 

Was will uns Nietzsche mit dieser brillant formulierten Geschichte kundtun?

Zuvorderst und mit allem Nachdruck will er seiner Leserschaft mitteilen, dass etwas Ungeheuerliches, Unvorstellbares passiert ist, das als Untat jegliche menschliche Dimension übersteigt. Zur Verkündung dieser Katastrophe bedarf es des“ tollen Menschen“, der als eine Art Hofnarr unakzeptable Wahrheiten aussprechen darf.

Es ist die auf dem Markt, also der Menschheit offenbarte Behauptung, dass Gott tot ist und die Menschen ihn getötet hätten.

Dieser Umstand ist aber nur allegorisch zu verstehen. Der Gott, den Nietzsche meint, ist nämlich per definitionem nicht sterblich. Der Philosoph meint vielmehr,  dass das, was die Menschen mit ihrer Sehnsucht nach Göttlichem kraft ihrer Phantasie geschaffen haben, nämlich einen seit Menschengedenken unbestrittenen, alles durchdringenden  Glauben an einen ewigen, allmächtigen Gott, nicht mehr besteht und dass die Menschen diese Glaubensgewissheit selbst abgeschafft haben. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass Nietzsche von den feuerbachschen Vorstellungen inspiriert wurde, nach denen der Mensch sich seinen Gott als Projektion des Menschen selbst kreiert

Nietzsche wird von einer Zeit geprägt, die vom hegelschen Idealismus abgekommen ist und den Menschen sowie die ihn umgebende Materie in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Überlegungen stellt. Dies wird später noch deutlicher, wenn Nietzsche einen Ersatz für den verlorengegangenen Gottesglauben, anbietet, nämlich den „Übermenschen“ in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“.

Besonders berührt im Sinne einer Nachdenklichkeit und der Erkenntnis der großen Bedeutung dieser Aussage in der Gottesallegorie hat mich die intensive und ausführliche Klage des tollen Menschen über den Verlust des selbstverständlichen Gottesglaubens.  Hier und an den beiden oben zitierten Gottesgedichten könnten Theologen den Hebel ansetzen, den gottlosen Nietzsche zu einem tragischen Gottessucher umzuinterpretieren.

Schließlich ist noch anzumerken, dass der tolle Mensch einen Zustand beschreibt, der zwar schon eingetreten ist, aber von den Menschen in seiner ganzen Tragweite noch nicht begriffen wird.

Nietzsche lässt die Menschen aber nicht allein mit diesem Schrecken der religiösen Leere, sondern bietet, wie oben schon angedeutet,  Ersatz durch einen Verkünder, dem er den Namen und die Bedeutung des historischen iranischen Religionsstifters Zarathustra verleiht und den er die neue Nietzsche Religionsphilosophie vortragen lässt.

Dazu nachstehend einschlägige Zitate aus Nietzsches dichterisch-philosophischen- quasireligiösem

Werk „Also sprach Zarathustra“:

Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Wille der Erde!

Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.

Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!

Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb und damit starben auch die Frevelhaften. _An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste…!“ a.a.O. Also sprach Zarathustra Ziffer 3 S. 595).

 

In der neuen Geistesströmung nach dem Ende des deutschen Idealismus steht der Mensch mit seinen Kompetenzen und seinen existentiellen Möglichkeiten im Zentrum der philosophischen Betrachtung. Der Mensch ist nicht mehr das Produkt göttlicher Mächte, sondern als naturwissenschaftlich nachvollziehbares darwinisches Geschöpf der Ausgangpunkt für eine neue Deutung der Welt.

Nietzsche zieht sozusagen die Konsequenz aus Feuerbachs Enttarnung Gottes als menschliche Projektion und lässt Gott als Gegenstand des religiösen  Glaubens sterben. Er verwirft „überirdische Hoffnungen „und bezeichnet die Priester als „Giftmischer“. Der Frevel an Gott ist kein Frevel mehr. Der größte Frevel ist nunmehr an der Erde und an der Bedeutung der Menschen zu zweifeln.

Im vierten Teil seines Zarathustra präzisiert Nietzsche, was er unter dem Übermenschen, den er hier den höheren Menschen nennt, versteht.

Ihr höheren Menschen, dies lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an den höheren Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt: wir sind alle gleich.

Ihr höheren Menschen, – so blinzelt der Pöbel – es gibt keine höheren Menschen, wir sind alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir alle gleich.

Vor Gott! Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen geht weg vom Markt!“(a.a.O. Also sprach Zarathustra vierter und letzter Teil, Vom höheren Menschen S. 808 ) .

Die Stellung des Menschen bei Nietzsche als Ersatz für den verstorbenen Gott  und damit als Religionsersatz ist insoweit problematisch als nur ein kleiner Teil der Menschheit in den Genuss der menschlichen Vergöttlichung gelangt, während die überwältigende Mehrheit als Pöbel bezeichnet wird und von den Übermenschen getrennt bleibt. Die normalen Menschen erheben zwar den Anspruch, dass alle Menschen gleich seien. Aber da der Garant dieser Egalität nach Nietzsche tot ist, haben sie dieses Recht verloren. Die Menschen sollen, wie dies Zarathustra in den nachstehenden Zitaten fordert, überwunden werden und untergehen:

Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure größte Gefahr.

Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr!……..

Wohlan! Wohlan! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreißt der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe.

Die Sorglichsten fragen heute: wie bleibt der Mensch erhalten? Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: wie wird der Mensch überwunden?

Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und mein Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidenste, nicht der Beste. –

O meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang……………

Diese Herren von heute überwindet mir, o meine Brüder, – diese kleinen Leute: die sind des Übermenschen größte Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das Glück der Meisten.“ (a.a.O. Zarathustra vierter und letzter Teil s. 8087809).

Ich lese diese Eloge Zarathustras auf den höheren Menschen mit Unbehagen, wenn nicht sogar mit einer gewissen Empörung, weil er damit zum Untergang der gesamten Menschheit, wie sie mir bekannt ist und der ich mich angehörig fühle, aufruft.

Dieser Religionsersatz von Nietzsche ist eine brillant formulierte, literarisch präsentierte Arroganz, die eher Angst macht als, dass sie tröstet. Allerdings muss man ihr auch einen gewissen prophetischen Aspekt zubilligen, wenn man die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz  und der Gentechnik betrachtet, Ich verweise insoweit auf Noah Hararis    Werk: Eine kurze Geschichte der Menschheit, in dem er im letzten und zwanzigsten Kapitel eindrucksvoll das mögliche  „ Ende des Homo sapiens“ beschreibt.

Die Thematik des abschließend zu betrachtenden Werkes von Nietzsche, „Der Antichrist“, hat nur mittelbar mit dem hier zu behandelnden Gegenstand, also mit Gott, zu tun. Es geht vielmehr um die Entfaltung und Auswirkung einer welthistorisch bedeutenden religiösen Organisation, um das Christentum. Dabei kritisiert er diese Weltreligion sehr radikal, teilweise zutreffend, manchmal übertreibend und im Ergebnis vernichtend.

Dabei fällt mir eine interessante thematische Überlappung mit der obigen Darstellung des Christentums im Teil C dieses Essays auf, die ich als erstes darlegen möchte.

Es handelt sich um die dominierende Rolle, die Paulus bei der Entstehung des Christentums gespielt hat. Wie Paulus die Lehre Jesu und seinen Tod umgedeutet und damit eine neue, eigenständige, in der griechischen Philosophie angesiedelte und vom Mithraskult angeleuchtet Religion erschaffen hat, ist sachlich oben dargestellt.

Nietzsche setzt diese Fakten voraus, um dann mit leidenschaftlichen Worten und leider auch mit antisemitischen Sentenzen, die nach seiner Ansicht unheilvolle Rolle des Paulus bei der Entstehung der christlichen Weltreligion zu beschreiben:

Das erschien Paulus. Paulus, der Fleisch-. der Genie-gewordenen Tschandala-Hass gegen Rom, gegen die Welt, der Jude, der ewige Jude par excellence.

Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen- Bewegung abseits des Judentums einen Weltbrand entzünden könne, wie man mit dem Symbol „Gott am Kreuz“ alles Unten-Liegende,  alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu deiner ungeheuren Macht auf summieren könne. Das Heil kommt von den Juden. –

Das Christentum als Formel, um die unterirdischen Kulte aller Art, die der Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel zu überbieten – und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus

Sein Instinkt war darin so sicher, dass er die Vorstellungen, mit denen jene Tschandala-Religionen faszinierten (verächtlicher Begriff für die Religion von Menschgen der Unterklassen), mit schonungsloser Gewalttätigkeit an der Wahrheit dem Heilande seiner Erfindung in den Mund legte, und nicht nur in den Mund – dass er aus ihm etwas machte, das auch ein Mithras-Priester  verstehen konnte…

Dies war sein Augenblick von Damaskus: er begriff, dass er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um die Welt zu entwerten, dass der Begriff Hölle über Rom noch Herr wird, – dass m an mit dem Jenseits das Leben tötet“ (a.a.O. Der Antichrist § 43).  

 

Zum Schluss meiner Nietzsche -Betrachtung die zusammenfassende, kompromisslos missbilligende Verurteilung des Christentums, zitiert auszugsweise aus dem letzten Kapitel seines Antichristen:

Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelenniedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von humanitären Segnungen zu reden!

 Irgendeinen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit, sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sie zu verewigen… Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert……

Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihren Bleichsuchts-, ihrem Heiligkeits-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat, – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst…..

Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt“.

 

Ich lasse diese wilde Attacke Nietzsches auf das Christentum unkommentiert, weil sie sich durch Urteile von krasser Emotionalität auszeichnet.

Wenn man allerdings sachlich die Lehren des Christentums betrachtet, seine theologische Entwicklung und seine historische Entfaltung mit zahllosen Menschheitsverbrechen berücksichtigt und schließlich den heutigen Zustand der christlichen Kirchen bewertet, dann könnte man versucht sein, Sympathie für  den Ausraster des Philosophen zu empfinden.