„Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer es denkend erfassen, um es dann in Worten auszudrücken? Und doch- können wir ein Wort nennen, das uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, verstehen es auch, wenn wir einen anderen davon reden hören. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht“.
Ausgehend von dem obigen Zitat im zehnten Buch seiner Confessiones behandelt Augustinus die Zeit mit derselben Zielsetzung, mit der auch ich dieses Phänomen in dieser Betrachtung erkunden will.
Wer sich mit einem geglaubten Dasein Gottes und der Präsenz des Menschen beschäftigt, stößt unweigerlich auf das Problem der Zeit und der Ewigkeit. Für den Begriff der Existenz des Menschen ist nämlich denknotwendig die Zeit eine Voraussetzung und im metaphysischen Existenzbereich spekulativ der Begriff der Ewigkeit.
Im ersten Teil der Betrachtung will ich darlegen, wie ich auf Grund des von mir Gelesenem und Gedachten die Zeit beschreiben und definieren kann. Im zweiten Teil möchte ich den großen Augustinus zu Wort kommen lassen, der im zehnten Buch seiner Confessiones die Zeit und die Ewigkeit philosophisch tiefgründig und sprachlich brillant abgehandelt hat.
Teil 1
Vorweg ist festzustellen, dass Zeit nur auftritt, wenn Raum, Materie, und Bewegung vorhanden sind. Wenn eine dieser Voraussetzungen fehlt, ist keine Zeit festzustellen. Ich sage aus Vorsicht ausdrücklich nicht: „ist keine Zeit vorhanden“. Man kann sich nämlich durchaus vorstellen, dass ein materieloser und unbewegter Raum existiert und dass dieser somit grundsätzlich einen zeitlichen Verlauf hat. Es ist auch ein mit Materie gefüllter, aber unbewegter Raum denkbar, der ebenfalls einen zeitlichen Hergang haben könnte. Aber in beiden Fällen kann der zeitliche Ablauf mangels Bewegung nicht gemessen und damit nicht wahrgenommen werden. Die Zeit ist damit nur vermutbar, aber nicht verwendbare Realität. Es bleibt also dabei: Die drei Elemente Raum, Materie und Bewegung sind für die Verwirklichung, vielleicht kann man auch sagen: für die Erlebbarkeit der Zeit unabdingbar.
Wenn man sich fragt, was die Zeit in ihrem Wesen nach ist, muss man vom menschlichen Erkenntnisvermögen ausgehen. Der Begriff der Zeit entwickelte sich aus dem kollektiven menschlichen Erlebnis. Die Erkenntnis der eigenen Existenz im Augenblick und die Erkenntnis des Fortschreitens der Existenz im folgenden Augenblick vermitteln dem Bewusstsein den Eindruck eines dauernden Vorganges. Die Zeit ist also in der Vorstellung der Menschen ein stetiger gegenwärtiger Prozess. Anders gesagt: die Zeit ist die existentiell wahrgenommene Veränderung in der Gegenwart. Die Vergangenheit wird von der Erinnerung als abgeschlossene gegenwärtige Zeit bewertet und damit als nicht mehr existente Zeit angesehen. Die Zukunft ist ebenfalls keine Zeit, sondern die Vorstellung des Fortschreitens der verändernden Bewegungen in der Gegenwart. Zeit findet also immer nur in der Gegenwart statt. So ist die Zeit aus der Erlebnisebene der Menschen zu beschreiben.
Diese von den Menschen erlebte Zeit hat noch einen weiteren subjektiven Aspekt. Die Dauer eines erlebten Zeitraums kann als unterschiedlich lang empfunden werden. Ein meisterhaftes Beispiel für diesen Umstand ist der Jahrhundertroman von Thomas Mann, der Zauberberg. Die ersten sieben Monate des Aufenthaltes von Hans Castorp im Davoser Sanatorium nehmen mit den ersten fünf Kapiteln etwa die Hälfte des Textes ein, während für die restliche Zeit seines Verbleibs von 6 Jahren die andere Hälfte verwendet wird. Die Zeitdehnung in der Anfangsphase beruht auf einer Verdichtung durch eine Vielzahl von Ereignissen, während der zweite Teil gekennzeichnet ist durch eine auf Wiederholungen und Gewöhnung basierenden Ereignisarmut. Ähnliche Erfahrungen machen auch Senioren, deren Lebensrundung in der Regel durch ein Ereignisdefizit zu einem Routinelauf wird und deshalb schneller als tatsächlich geschehend wahrgenommen wird.
Ausgehend von dem oben beschriebenen menschlichen, gegenwärtigen Zeiterleben, ermittelt der Mensch empirisch aus den Berichten und überlieferten Anschauungen, dass auch die vergangenen Ereignisse zeitlich so gestaltet waren wie das gegenwärtige zeitliche Erleben. Für die Zukunft wird auf die Fortsetzung der Gegenwartsprozesse gesetzt. Aus diesen in der Psyche der Menschen gebildeten Zeitvorstellung erkennt der forschende Geist anhand der kosmischen Vorgänge, dass seine Vorstellungen über die Zeit auch die tatsächlichen zeitlichen Abläufe im Universum abbilden.
Wenn oben das Wesen der Zeit dargestellt wurde, wird nachfolgend die praktische Handhabung der Zeit beschrieben. Das Messen der Zeit und das Bilden von messbaren Zeiträumen ist eine der wichtigsten Grundlagen der menschlichen Kultur und Zivilisation.
Das Messen der Zeit begann für den Menschen mit der Beobachtung der Gestirne und mit dem Erleben der durch die Erdumdrehung und durch die Sonne verursachten Tag-Nacht-Situation und der Jahreszeiten. Diese Naturzeiten wurden im Laufe der Zivilisationsentwicklung durch die Erfindung der Uhr in immer kleineren Zeiträumen exakt messbar. Im praktischen Leben ist nicht, wie oben bei der Definition der Zeit, der Augenblick, also die Bewegung, bzw. das Ereignis in der Gegenwart entscheidend, sondern der Zeitraum.
Der Zeitraum ist der Begriff der menschlichen Lebenspraxis. Er verdichtet sich zurzeit, wenn der Zeitraum durch eine Verabredung oder durch eine Bestimmung zu einem Momentereignis schrumpft. Ansonsten ist der Zeitraum keine Zeit, sondern ein Bereich, in dem sich Zeit abspielt oder sich abgespielt hat oder sich abspielen wird.
Betrachten wir zunächst die vergangenen Zeiträume. Hier ein Beispiel: Die beiden Weltkriege enthalten als vergangene Ereignisse der 20. Jahrhunderts keine Zeit mehr. Sie sind auf Grund der Überlieferung lediglich Gegenstand der Erinnerung.
Geht man aber von einem anstehenden, gegenwärtigen Zeitraum aus, also z.B. im Tagesgeschehen kurz vor einer geplanten Unterrichtsstunde, so durchlebt ein solcher Zeitraum alle drei Zeitstufen. Der Zeitprozess durchschreitet den genannten Zeitraum, realisiert die Zeit im gegenwärtigen Moment, lässt hinter sich die verbrauchte Zeit, die dann nicht mehr existiert und vereinnahmt im Takte des Fortschreitens in Richtung Zukunft die die noch nicht geschehene Zeit des Zeitraums.
Bedenkt man einen zukünftigen Zeitraum, z.B. die bevorstehende Premiere eines Theaterstücks oder eine geplante Urlaubsreise, so findet in diesen zukünftigen Zeiträumen noch keine Zeit statt. Diese Zeiträume sind vielmehr gekennzeichnet durch die gedanklichen und emotionalen Erwartungen, die ihrerseits gespeist werden von der jeweiligen zeitlichen Gegenwärtlichkeit der Menschen.
Aus dem bisher zum Thema „Zeit“ Vorgetragenen gewinnt man den Eindruck, als sei die Zeit nur existent, wenn sie im Zusammenhang mit dem Menschen vorkommt. Es stellt sich damit die Frage, ob es auch eine von den Menschen unabhängige Zeit, eine objektive Zeit gibt. Immerhin hat es auf unserem Planeten Milliarden von Jahren gegeben, in der die Menschheit noch nicht existent war. Hat also in den menschenleeren Zeiträumen objektiv Zeit stattgefunden? Wer oder was kann diese Frage beantworten? Es gibt keinen tatsächlich auftretenden Gott oder einen in Erscheinung getretenen Außerirdischen, die vortragen und beweisen könnten, dass die Zeit objektiv sei. Es gibt aber reiche Forschungsergebnisse, die für den menschlichen Verstand objektiv belegen, dass zb das Paläozoikum, das Erdaltertum 543 Millionen Jahre gedauert und bestimmte Tierformate und Landschaftsformen hervorgebracht hat. Diese Erkenntnisse sind wiederum menschlich! Jetzt heißt es nicht zu verzagen. Wir haben keine anderen Erkenntnisquelle als den Menschen.
Schließlich ist der Mensch, wie der griechische Philosoph Protagoras schon im fünften Jahrhundert v.Chr. konstatierte, das Maß aller Dinge. Dies bedeutet nicht, dass sich der Mensch gegenüber seiner Umwelt alles erlauben kann sondern dass die Menschen in ihrer Erkenntnisfähigkeit auf ihre menschliche intellektuelle Kompetenz beschränkt sind. Zwar können sie denken, dass es Umstände gibt, die sie nicht denken können, was ich für den höchsten Schritt der menschlichen Denkfähigkeit halte. Für die philosophischen Überlegungen und für die wissenschaftliche Wahrheit kann derzeit aber nur der menschliche Verstand maßgebend sein.
Wenn also nach menschlicher Ermittlung und Erkenntnis ein Tatbestand ohne jeglichen Zweifel der Wirklichkeit entspricht, so ist er nicht nur subjektiv zutreffend, sondern muss auch objektiv für wahr gehalten werden. Dies bedeutet für unsere Untersuchung, dass Zeit und Zeiträume unabhängig vom Menschen und damit objektiv bestehen.
Bevor die Ewigkeit als Aliud der Zeit dargestellt wird, ist noch ein weiterer Zeitbegriff zu klären. Es geht um einen besonderen der bereits behandelten Zeiträume, nämlich die ewige Zeit, die nicht mit der Ewigkeit verwechselt werden darf.
Es ist der längste denkbare Zeitraum, nämlich der Verlauf der Zeit von der Entstehung des Universums an bis heute. Dieser Zeitraum kann man wegen seiner unergründlichen Länge als ewige Zeit bezeichnen.
Eine weitere Zeitgestaltungen der ewigen Zeit ist philosophisch behandelt worden, nämlich die der Zeit ohne Anfang und mit einem festen Ende. In Platons Timaios findet der aus der Ewigkeit hervortretende Weltgeist (über Ewigkeit siehe nachfolgend unten) das wildbewegte Chaos vor, das seit ewigen Zeiten, also ohne Anfang besteht und das jetzt zum Kosmos mit einer neuen Zeit geordnet wird. Damit endet die Chaoszeit. Diese Szenerie entspricht aber nicht den derzeitigen Vorstellungen von der Geburt der Welt, die mit dem Urknall aus dem Nichts entstanden sein soll.
Die herrschende Theorie, nach der die Welt aus dem Nichts durch einen Urknall entstanden ist, leitet zum Thema „Ewigkeit“ über. Es wird sich zeigen, dass die Ewigkeit gegenüber der Zeit und der ewigen Zeit ein Aliud ist.
Der Begriff der Ewigkeit ist keine Kategorie, die einer Erkenntnis mittels der menschlichen Sinne zugänglich ist wie die Zeit. Sie ist vielmehr ein reines Denkprodukt, das seinen Ursprung in zwei Spekulationslinien hat. Das ist einmal die religiöse Vorstellung vom allmächtigen Gott, der im Hinblick auf seine Allmacht keinen Anfang und kein Ende haben darf. Der noch wichtigere Grund liegt zum anderen in der Hypothese von der Entstehung der Welt.
So gehen die monotheistischen Religionen davon aus, dass ihr Eingott den Kosmos aus dem Nichts geschaffen habe. Auch in der Philosophie gibt es gleichartige Überlegungen. Ich denke dabei vor allem an Aristoteles. Schließlich wird derzeit auch wissenschaftlich vermutet, dass das Universum aus dem Nichts durch den Urknall hervorgebracht wurde. In allen Fällen fragt es sich, wo, örtlich und zeitlich, sich der Schöpfer vor dem Entstehungsvorgang befand.
Am deutlichsten lässt sich der Begriff der Ewigkeit aus dem von Aristoteles entwickelten unbewegten Beweger ableiten.
Hierzu folgende Gedanken: Dem menschlichen Verstand ist es als unbezweifelbare Weise eingegeben, dass jede Wirkung eine Ursache hat. Also muss auch die mir erscheinende Welt aus einer unfassbaren Anzahl von Ursachen bestehen, die sich in die Vergangenheit zurück zu einer ersten Ursache entwickeln. Aber diese erste Ursache muss entsprechend unserer Denkstruktur wiederum eine Ursache haben. Damit verliert sich unsere Ursachenkette in der Unendlichkeit und folglich in der absoluten Unbestimmbarkeit. Damit könnte über die Entstehung der Welt nichts ausgesagt werden. Das hat auch Aristoteles erkannt, hat den Ursachenregress angehalten und hat eine erste, ursachenlose Ursache eingeführt, den unbewegten Beweger. Er ist Vorlage für einen allmächtigen Weltenschöpfer.
Wenn von diesem unbewegten Beweger der Kosmos geschaffen wird, oder anders gesagt mit dem Urknall Raum, Materie und Bewegung/Energie entsteht, entsteht auch die Zeit. Aber was geschah vor dem Urknall, also vor der Zeit? In welchem Bereich befand sich der unbewegte Beweger?
Der Seinszustand vor dem Urknall muss ein zeitloser gewesen sein, weil, wenn er zeitlich gewesen wäre, notwendigerweise Raum, Materie und Bewegung/Energie vor dem Urknall hätten vorhanden sein müssen. Damit hätte einen Urknall, der per Definition aus dem Nichts entsteht nicht geben können.
Den Seinszustand vor dem Urknall, also den zeitlosen Zustand nennen wir „Ewigkeit“.
Die Ewigkeit ist also nach diesen Gedankenspielen ein zeitloses Jetzt ohne Raum, Materie und Bewegung. Sie ist der geistige Wohnsitz des unbewegten Bewegers und damit Ausgangspunkt für die Erschaffung des Universums.
Teil 2 Und jetzt spricht Augustinus:
„Was tat Gott, bevor er schuf? Nichts! Es gab kein „bevor“. Nicht Zeit, sondern Ewigkeit geht der Schöpfung vor.
Wenn aber eines Menschen schwärmerischer Sinn sich in Vorstellungen längst verflossener Zeiten ergehen und wundern sollte, dass du, allmächtiger Gott, der alles schafft und alles erhält, Baumeister des Himmels und der Erde, eh du solches großes Werk anfingest, in ungezählten Jahrhunderten müßig gegangen seiest, der wache auf und gebe acht, wie irrig er sich wundert.
Denn wie konnten ungezählte Jahrhunderte vorübergehen, die du nicht geschaffen hattest, da du doch aller Jahrhunderte Urheber und Schöpfer bist. Oder was hätten das für Zeiten sein können, die nicht von dir geschaffen wären. Oder wie hätten sie vorübergehen können, wenn sie nie hätten sein können? Wenn du also der Begründer aller Zeiten bist und es eine Zeit gab, ehe du Himmel und Erde schufst, wie kann man dann sagen, dass du müßig warst. Denn eben diese Zeit hattest du geschaffen, und es konnten keine Zeiten vorübergehen, ehe du die Zeiten schufst. Wenn es aber vor Himmel und Erde keine Zeit gab, wie kann man dann fragen, was du damals tatest. Denn es gab kein damals, wo es noch keine Zeit gab.
Du gehst auch nicht zeitlich den Zeiten vorauf, sonst würdest du nicht allen Zeiten voraufgehen. Sondern du gehst allem Vergangenem vorauf in der Erhabenheit der immer gegenwärtigen Ewigkeit und überragst auch alles Zukünftige, denn zukünftig ist es, und wenn es gekommen ist, wird es schon vergangen sein. Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende. Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht, unsere aber gehen und kommen, bis sie alle gekommen sind.
Deine Jahre stehen alle zugleich, denn sie stehen fest, werden nicht fortgehend von herkommenden verdrängt, denn sie gehen nicht vorüber. Unsere werden dann alle sein, wenn alle nicht mehr sind. Deine Jahre sind ein Tag, und dein Tag heißt nicht täglich, sondern heute. Denn dein heutiger Tag weicht nicht dem morgigen, folgt auch nicht dem gestrigen. Dein heutiger Tag ist die Ewigkeit, so ist auch er gleichewig wie du, den du erzeugtest und zu dem du sprachst: heute habe ich dich erzeugt. Alle Zeiten hast du erschaffen, und vor allen Zeiten bist du, und nie gab es eine Zeit, wo keine Zeit war“. (Aurelius Augustinus Bekenntnisse im DTV 1982 S.310-311).